Grüne Augen lügen nicht
“Ich kann mich kaum erinnern”, sagte Maeve verzweifelt. Sie saß nun schon seit einigen Minuten im Büro der Clanleiterin. Niemals hätte sie erwartet, dass sie wegen einer einzigen Quest so viele Fragen beantworten müsste. Das größte Problem an der Sache war, dass sie sich doch selbst an die meisten Sachen nicht erinnern konnte. Ihre gesamte Gefühlswelt war auf den Kopf gestellt. Es war beinahe so, als wäre sie wieder ein kleines Kind, das seine Gefühle noch nicht deuten und kontrollieren konnte. Seit langem war sie mal wieder den Tränen nahe und den Kloß in ihrem Hals konnte sie nicht einfach so herunterschlucken. Sie erkannte sich selbst nicht mehr. Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter. In diesem Moment wurde ihr bewusst, wie warm ihr Gesicht geworden war. Sie sah bestimmt ganz aufgequollen und rot aus. Diese Vorstellung war schrecklich für die Aphroditetochter. “Maeve? Könntest du uns bitte alles erzählen, an das du dich erinnern kannst?”, fragte die Clanleiterin in einer beruhigenden Stimme und schaffte es, Maeve aus ihren Gedanken herauszuholen. Sie blinzelte etwas verwirrt ihre Tränen weg und versuchte, sich zu konzentrieren. Ihr Blick wanderte von der Clanleiterin weg, hin zu ihrer besten Freundin Elina. Sie war für das alles verantwortlich. Maeve öffnete gerade ihren Mund, als die Apollotochter das Wort ergriff. “Das ist alles meine Schuld!”, brach es aufgebracht aus ihr heraus. Alle drehten ihre Köpfe nun zu ihr. Die Clanleiterin schenkte der Blondine einen gütigen Blick und nickte. “Keiner ist Schuld an irgendwas. Und es wird auch niemand bestraft. Wir wollen lediglich wissen, wie es zu dieser Situation gekommen ist”, erklärte die Clanleiterin ruhig und verständnisvoll. Elina nickte und Maeve versuchte den Kloß in ihrem Hals loszuwerden, bevor sie schließlich anfing die Geschehnisse zu schildern: “Also… Alles fing damit an, dass Elina auf eine Quest geschickt wurde…”
“Komm schon, Maeve! Komm doch bitte mit!”, bat Elina ihre beste Freundin. Sie wollte, dass Maeve sie auf eine Quest begleitete. Aber eigentlich wollte Maeve die schützenden Wände des Camps nicht verlassen. Draußen warteten Monster und allerlei anderer gefährlicher Kram. Das war doch absolut nichts für eine Aphroditetochter. Sie war weder gut im Umgang mit Waffen noch meisterte sie ihre Fähigkeiten. Vermutlich wäre sie auf dieser Mission eher ein Hindernis als eine wirkliche Hilfe. “Ich weiß nicht Elina…”, meinte Maeve, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihrer besten Freundin nicht in die Augen. Würde sie sie jetzt ansehen, wäre es vorbei und sie könnte nicht mehr nein sagen. So war es immer. “Pans Garten… klingt mehr als nur gefährlich”, fügte Maeve hinzu. Das war nicht mal eine Ausrede. Es klang wirklich gefährlich. Von einer so gefährlichen Mission hatte sie schon eine ganze Weile nicht gehört. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie während ihrer gesamten Campzeit nicht von einer solchen Mission gehört. Warum ausgerechnet Elina auf diese Quest gehen sollte, wusste sie nicht. Aber die Apollotochter war schon immer scharf auf eine ganz große Aufgabe gewesen. Das konnte Maeve noch nie verstehen. Hier war es doch sicher, deshalb gab es doch das Camp. Warum hatte man dann den Drang es zu verlassen? “Ach, das wird schon! Wir nehmen einfach noch Anthony mit! Der wird uns beide beschützen!”, versuchte Elina weiter, Maeve zu überzeugen. Doch sie rollte nur mit den Augen. Anthony, na klar. Das konnte ja nur ganz wunderbar werden. Nicht. Anthony war eine fiese Schlange. Maeve traute ihm nicht ein einziges Stückchen über den Weg. Er hatte die gesamte Campzeit das Image eines Playboys und jetzt wollte er auf einmal nur noch Elina? Da musste doch was faul sein. Außerdem war Maeve der festen Überzeugung, dass Anthony sie überhaupt nicht leiden konnte. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. “Biiiiitteeeeeee!”, bettelte Elina weiter. Und das war der Moment, in dem Maeve einen entscheidenden Fehler machte. Sie schaute ihrer besten Freundin ins Gesicht. In diese wunderschönen himmelblauen Augen, die sie schmollend und flehend ansahen. Ihr Herzschlag verschnellerte sich schlagartig und direkt rutschte es aus ihr heraus: “Na schön.” Direkt nach der letzten Silber dieser Worte, bereute Maeve sie bereits. Andererseits wusste sie, dass sie Elina niemals ohne sie auf eine Mission hätte gehen lassen. Und sie umzustimmen schien beinahe unmöglich. “Danke! Du bist die allerbeste Freundin auf der ganzen, großen, weiten Welt”, sprudelte es aus Elina heraus, die die Rothaarige stürmisch umarmte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Bereits einen Tag später packte Maeve ihren Rucksack zusammen und traf sich mit Elina und Anthony am Ausgang des Camps und dann ging es los. Mit einem Taxi, welches von drei seltsamen alten Damen gesteuert wurde, wurden sie in das Herz von New York gefahren. Dort mussten sie in einem botanischen Garten durch eine Pforte in einem Baum treten. Die gesamte Zeit über war die Situation merkbar angespannt. Die Luft war so dick, dass man sie mit einem Messer hätte zerschneiden können. Doch in der Sekunde, als sie den Garten des Pan hinter der Pforte betreten hatten, wurde alles noch viel unbehaglicher. “Wo müssen wir jetzt hin?”, fragte Anthony und schaute dabei seine Freundin an, die er die gesamte Zeit über an seiner Hand mit sich zog. Das ist doch absolut lächerlich. Elina war eine starke und unabhängige Frau und brauchte definitiv keinen Mann, der ihr die ganze Zeit die Hand beim Laufen hielt. Sie konnte schon einige Jahre ganz gut alleine gehen. Die blonde Apollotochter zuckte auf die Frage ihres Freundes hin einfach nur mit den Schultern und bekam daraufhin verdutzte Blicke zu spüren. “Du weißt nicht, wie es jetzt weitergeht?", harkte Anthony nochmal nach und Elina schüttelte einfach nur verneinend den Kopf. Schließlich meinte sie dann, dass sie den Weg schon finden würden, wenn er vor ihrer Nase auftauchen würde. Also liefen die drei weiter auf das Herz des Gartens zu. “Kannst du das nochmal wiederholen?”, fragte Anthony zum gefühlt hundertsten Mal. So dumm konnte der Typ doch nun wirklich nicht sein. “Alter, Anthony. Sie hat es jetzt schon mehrfach wiederholt. Wir müssen zu dritt hier sein, weil auf dem Weg zur Flöte immer wieder eine Person zurückbleiben muss. Einer an der ersten Station, einer an der zweiten und die dritte Person kann dann zur Flöte. So schwer ist das doch nicht!”, meckerte Maeve und fluchte innerlich, dass sie diesen Steinzeitproleten mitgenommen hatten. Der hatte mehr Muskeln in den Armen als Hirn im Kopf. “Und was für Stationen werden das sein?”, harkte er nach. Schnaubend rollte Maeve mit den Augen. Auch das hatte man ihm schon mehrfach erklärt. “Das wissen wir nicht”, antwortete Elina mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Wie sie da immer noch so freundlich und glücklich bleiben konnte, war Maeve ein Rätsel.
Ein lautes Brüllen lenkte die Gruppe von ihrem Weg ab. Es war so laut, dass es den Boden zum Beben brachte. “Was war das?!”, fragte Maeve verängstigt und stellte sich mit Elina hinter Anthony, der sich bereits schützend mit seinem Schwert in der Hand vor die beiden drängte. Der Boden zitterte weiter, als man schwere Schritte hören konnte. Viele Schritte, die immer näher kamen und bedrohlich laut wurden. Doch niemals hätte die Gruppe erahnen können, was sich in einer angsteinflößenden Geschwindigkeit auf sie zukam. Es war eine gigantische weiße Gottesanbeterin, die mit ihren Facettenaugen auf die drei fixiert war. Das Gruselige an diesen Dingern war, dass sie aber immer so aussahen, als würden sie einen verfolgen. Das wusste Maeve auch, machte die Sache aber nicht gerade angenehmer. Sie schlug ihre Fangzähne zusammen und ließ ein weiteres tiefes Grummeln von sich. Die Bestie musste etwa drei Meter groß sein und mit ihren scherenartigen Armen konnte das Ding bestimmt einfach so die Köpfe der drei abknipsen. Maeve war noch nie ein Fan von Insekten gewesen, aber dieses Monster war schlichtweg direkt aus einem Alptraum gekrochen. “Verschwindet und geht ohne mich weiter!”, schrie Anthony und schubste die beiden Mädels nach hinten. “Nein!”, schrie Elina und wollte zurück zu Anthony rennen. Doch Maeve zögerte nicht und riss Elina an ihrer Hand mit sich. “Er hat recht”, meinte die Rothaarige, als sie einfach nur rannte, “Ausnahmsweise. Und wenn wir uns schon mal einig sind, solltest du auf uns hören.” Daraufhin horchte Elina und nahm beide Beine in die Hand, um so schnell wie möglich vom Kampf zu fliehen. Noch aus der Ferne konnte man das Brüllen, welches sich inzwischen eher wie ein Klicken oder Knattern anhörte, vernehmen. Als Maeve sich ein einziges Mal besorgt nach hinten umdrehte, konnte sie sehen, wie es Anthony gelang, der Bestie eines seiner sechs gigantischen Beine mit dem Schwert abzutrennen. Auch wenn sie ihn nicht mochte, war sie ihm unfassbar dankbar für diese Aktion. Er war wirklich ein ausgesprochen guter Kämpfer und wusste, wie er mit dem Schwert und solchen Monstern umzugehen hatte. Nun war sie doch froh, dass er dabei gewesen war.
Nachdem die beiden Mädchen einige Minuten lang einfach nur gerannt waren, erreichten sie eine riesige Trauerweide, die in der Mitte eines perfekt kreisrunden Sees stand. Das musste das Herz des Gartens sein. An dem Baum hingen zahlreiche goldene Früchte und eine kleine von Moos bedeckte Steinbrücke bildete einen Weg zu einem Podest, welches vor dem Baum stand. Hand in Hand liefen die beiden Demigöttinnen über die Brücke, um an das Podest zu gelangen. In der Luft flogen goldene Funken umher, die an Glühwürmchen erinnerten und es duftete nach den Lilien, die auf dem Wasser des Sees schwammen. Auf dem Podest schwebte ein Pergament in der Luft, auf welchem in einer schwarzen verschnörkelten Schrift lediglich eine Sache stand. “Pflückt eine der Pflanzen dieses Baumes und nehmt sie zu euch. Die Person, die dies tut, wird in einen ewig andauernden Schlaf versinken. Die andere Person darf weiter gehen, um die Flöte zu bergen”, las Elina laut vor, woraufhin sich beide Mädchen verzweifelt ansahen. Einer von beiden musste sich opfern. Für einige Augenblicke herrschte Stille, als sie sich einfach nur gegenseitig anstarrten. “Ich mache das!”, sagte Elina plötzlich, woraufhin Maeve kurz zusammenzuckte, “Das ist meine Idee gewesen, hierher zu kommen. Ich wollte auf diese dumme Quest gehen und habe dich gezwungen mitzukommen. Ich mach das!” Noch als Maeve realisieren wollte, was ihre beste Freundin gerade vorgeschlagen hatte, schnappte diese sich eine der Früchte. Das konnte sie nicht zulassen. Niemals würde sie zulassen, dass Elina sich dafür opfern würde. Sie wollte so dringend auf diese Mission und sie sollte es sein, die die Flöte des Pans ins Camp bringt. Außerdem hatte sie ein Leben ohne Maeve. Elina war der Inbegriff des Lebens und Maeve hatte nur Elina. Ohne sie wäre sie nichts. Wie aus einem Reflex heraus, riss Meave der Apollotochter die Frucht aus der Hand. Eine goldene Kastanie befand sich nun in Maeves Hand. Doch noch bevor sie sich genauere Details ansehen konnte, steckte sie sich das Ding schnell in den Mund und begann darauf rumzukauen. Zu ihrem Erstaunen war die Frucht samtig weich und schmeckte unfassbar süß. Beinahe so, als hätte man alle Früchte dieser Welt kombiniert, um diese goldene Köstlichkeit zu erschaffen. Das Letzte, was Maeve dann noch sah, waren die verzweifelten Augen ihrer besten Freundin. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief Maeve schließlich friedlich ein.
Elina brach in Tränen neben Maeves Körper zusammen, der auf den Boden sackte, als wäre ihr all ihre Lebensenergie entzogen worden. Doch sie atmete noch. Sie schlief lediglich. Aber Elina wusste, dass dieser Schlaf für immer andauern würde. Immer wieder tropften heiße Tränen von Elinas Wangen auf den weichen Wiesenboden neben Maeve. Ihre Sicht war verschwommen und sie legte sich verzweifelt auf Maeves schlafenden Körper und schloss die Augen. Deshalb sah sie auch den grünen Nebel nicht, der sich langsam auftat. Die kalten grünen Rauchschwaden legten sich um Maeves Körper und hüllten ihn komplett ein. Doch selbst das spürte oder bemerkte Maeve nicht in ihrem unendlichen Schlaf.
Oder eher in ihren unendlichen Traum. Ein Alptraum der Extraklasse. Es fühlte sich für Maeve wie eine Ewigkeit an, als sie durch die pechschwarze Dunkelheit taumelte. Ohne Orientierung, ohne einen einzigen Lichtstrahl. Maeve konnte nicht mal ihre Füße oder ihre Hände vor ihren Augen sehen. Es war die totale Finsternis, in der sie gefangen war. Als wäre sie in der Leere gelandet. Keine Geräusche, kein Licht. Der Boden unter ihr war glatt und dennoch schien sie ständig zu stolpern. Nach einer Zeit, die sich für Maeve angefühlt hatte wie Jahrhunderte, sah sie ein Licht. Sonnenschein erhellte die tiefe Dunkelheit und aus den goldenen Schattenstrahlen trat eine männliche Gestalt hervor. Eine angenehme, helle Stimme ertönte, die zu Maeve sprach: “Habe keine Angst, mein Kind. Ich bin Apollo und ich habe alles gesehen, was du für meine Tochter getan hast. Du hast für sie sogar dein Leben geopfert. Deshalb werde ich den Fluch des Pan aufheben und dich stattdessen mit meinem Segen beschenken. Du sollst erwachen und weiter leben, mit meinem Geschenk.” Apollo leuchtete hell wie die Sonne selbst und trat näher an Maeve heran, bis er schließlich mit seiner Hand ihre Stirn berührte. Das goldene Licht wurde weiß und blendend.
Mit einem tiefen Atemzug schreckte Maeve auf und öffnete ihre Augen, die grün leuchteten, als wären sie mit Smaragden besetzt. Vor ihr war Elina, die bitterlich weinte. Der grünliche Nebel verzog sich wieder, doch Maeve bekam nichts davon mit. Sie sprach Worte, an die sie sich danach nicht erinnern konnte. Bilder flimmerten vor ihren Augen auf, die ihr nicht bekannt vorkommen. Es war, als würde sie sich an etwas erinnern. Es waren aber die Erinnerung eines Fremden. Das hatte sie nicht erlebt. Sie kannte die Leute nicht, die sie sah. Die Umgebung kam ihr nicht bekannt vor. Nach einer Weile verschwammen die Bilder nur noch zu Symbolen und seltsam verzerrten Dingen. Eine unbekannte Leere durchzog Maeves Inneres und sie konnte ihre Gedanken und Gefühle nicht kontrollieren. Alle Emotionen wuschen auf einen Schlag über sie. Als würde eine Welle sie mit einem Schlag von der Mitte des Ozeans an einen Strand befördern. Und als die Welle endlich angekommen war, wachte Maeve auf. Dieses Mal wirklich.
“Ich weiß nicht was passiert ist, aber ich brauch jetzt ganz dringend eine Tafel Schokolade…”, sagte sie mit zitternder und verwirrter Stimme, als die Apollotochter sie einfach nur so ansah, als hätte sie gerade einen Geist vor sich sitzen. Elina fehlten die Worte. “Das war krass”, sagte eine Stimme hinter Maeve, die ihr nur allzu bekannt vorkam. Es war Anthony. Er hatte mehrere tiefe Wunden am ganzen Körper, aber abgesehen davon schien es ihm gut zu gehen. Maeve war sich bewusst, dass er ein guter Kämpfer war, aber sie hätte niemals gedacht, dass er diese gigantische Gottesanbeterin wirklich besiegen würde. Da hatte sie ihn wohl gewaltig unterschätzt. “Was? Was ist passiert?”, fragte Maeve aufgebracht weiter, nachdem ihr scheinbar niemand sagen wollte, was passiert war. Die Fragen in ihrem Kopf tummelten sich umher, wie kleine Fliegen, die sich im Sommer unter dem Licht einer Laterne versammelten und umherschwirrten. “Wieso bin ich wieder wach? Habt ihr die Flöte?”, fragte sie weiter und weiter. Erschrocken sah sich Elina um. Ein kleines Loch hatte sich im Stamm der dicken Trauerweide gebildet, in der sich die Flöte befand. Sie eilte dorthin und nahm die Flöte. Ein goldener Regen rieselte von den Blättern des Baumes hinab auf die drei Demigottheiten und beförderte sie in den Park, in dem sie das Tor zum Garten des Pan gefunden hatten. Als Maeve realisierte, dass sie nun alle in Sicherheit waren, sprudelte es weiter aus ihr heraus: “Könnte mir jetzt endlich mal jemand sagen, was da drinnen gerade passiert ist?!” Sie klang wütend und aufgebracht. Was für diese Situation allerdings mehr als nur verständlich war. Maeve war darauf vorbereitet, nie wieder aus ihrem Schlaf zu erwachen. Und doch war sie wach. Jedenfalls dachte sie das.
Noch bevor ihr jemand antworten konnte, hörte man aus der Ferne ein Hupen. Alle drei schreckten kurz zusammen und in der Ferne konnte man ein Taxi erkennen, das vermutlich von drei schrulligen alten Damen gefahren wurde. Geplättet und erschöpft schleppten sich die drei zum knallgelben Auto und stiegen auf der Rückbank ein. Die gesamte Fahrt über sprach niemand, auch wenn Maeve eintausend Fragen hätte stellen können. Es war nicht der richtige Zeitpunkt und das wusste sie. Später hatte sie mehr als nur genug Zeit, um all ihre Fragen zu stellen.
“Und dann sind wir im Camp angekommen und wurden direkt hier her bestellt…”, beendete Maeve ihren Vortrag über ihre Erinnerungen. Die gesamte Zeit über hatte die Clanleiterin nur verständnisvoll genickt und aufmerksam zugehört. Man hörte ein kontinuierliches Kratzen auf einem Stück Papier, auf dem eine Trainerin alles, was Maeve erzählt hatte, sorgfältig niederschrieb. “Ich bin mir sicher, dass du viele Fragen hast”, begann die braunhaarige Clanleiterin und schaute kurz zu Elina und Anthony, “Doch ich bin mir sicher, dass einer der beiden hier anwesenden etwas mehr Licht ins Dunkel bringen können, bevor ich den Rest erklären werde.” Ihr freundlicher, gütiger Blick wandelte sich in einen auffordernden Blick. Elina sah Maeve verzweifelt an. Schließlich ergriff Anthony das Wort: “Da war ein seltsamer grüner Nebel um sie gehüllt. Dann wachte sie auf und hatte keine braune, sondern leuchtend grüne Augen. Das war richtig gruselig. Sie hat irgend ein wirres Zeug gebrabbelt und dann sind ihre Augen wieder braun geworden.” Maeve konnte sich nicht erklären, was da passiert war oder was es bedeuten könnte. Das alles war so verwirrend für sie, dass sie es nicht mal in Worte fassen konnte. Wie denn auch? Sie schaffte es ja schließlich nicht mal ihre Gedanken zu ordnen oder auch nur einen von ihnen aus diesem Wirrwarr zu greifen. “Was hat sie denn gesagt?”, harkte die Clanleiterin weiter nach. Doch Anthony schüttelte bloß unwissend den Kopf. Vermutlich war er zu dem Zeitpunkt noch zu weit weg, um verstanden zu haben, was sie gesagt haben könnte. Aber Elina war direkt vor ihr und hatte alles mitgehört. Daher war es auch keine große Überraschung, dass sie schließlich das Wort ergriff:
“Am Lagerfeuer, wenn der Mond ist voll,
Geschwister zwei, im Flammenhall entrollt,
Durch Aschepfade wandeln sie, im Dunkel's Schoß,
Das Blut verrät, wer Freud, wer Leid genoss.
Der Ältere weise, der Jüngere rein,
Ein Bund aus Licht, in Schatten nicht allein,
Ein Rätsel im Rauch, des Feuers Glut,
Ein Herz zerspringt, das andere wird Mut.
In Zungen der Flammen, ein Geheimnis versteckt,
Nur vereint, die Wahrheit erweckt,
Ein Verrat, ein Sieg, die Welt gerettet,
Geschwister zwei, deren Schicksal gebettet.”
Ein Lächeln breitete sich auf den Lippen der Clanleiterin aus. Sie nickte und räusperte sich kurz, bevor sie anfing zu sprechen: “In Ordnung. Das ist alles, was wir wissen müssen.” Ihr Blick fixierte sich auf Maeve, die immer noch keinen Schimmer hatte, was vor sich ging und was passiert war. An diese Worte konnte sie sich nicht erinnern, noch an irgendetwas, das in diese Richtung hätte gehen können. Alles, was sie wusste, war, dass sie ewig hätte schlafen sollen, sie im Traum auf Apollo traf und plötzlich doch aufwachte. “Maeve. Du bist das neue Orakel von Delphi”, verkündete die Clanleiterin nüchtern, woraufhin es im Raum unheimlich still wurde. Maeves Magen krampfte zusammen und sie hätte sich in diesem Moment direkt an Ort und Stelle übergeben können. Aber sie riss sich zusammen und atmete einige Male tief durch. “Und wie werde ich das wieder los?”, fragte sie einfach, woraufhin alle Erwachsenen amüsiert lachten. Nachdem sie jedoch Maeves verwirrten Blick sahen, realisierten sie, dass sie diese Frage ernst gemeint hatte. “Du wirst das wohl noch eine Weile mit dir herumtragen”, erklärte man ihr und all ihre Hoffnung erlosch. Sie wollte das doch gar nicht. Warum ausgerechnet sie? Die Worte von Apollo hallten in ihrem Kopf wieder: “Du sollst erwachen und weiter leben, mit meinem Geschenk.” Von einem Geschenk konnte man da wirklich nicht reden. Aber Maeve hatte schon einmal akzeptieren müssen, dass sie etwas konnte, was sie lieber nicht können wollte. Also beließ sie es dabei und versuchte sich daran zu gewöhnen. Es war ähnlich zu der Erfahrung, herauszufinden, dass man eine Halbgöttin war und von der Göttin Aphrodite abstammte. Sie würde eines Tages schon lernen, diese Gabe zu akzeptieren und sie nicht weiter als Fluch anzusehen. Für den Moment war sie einfach nur froh, dass sie, Elina und Anthony die Mission überstanden hatten und ihren normalen Alltag bestreiten konnten. So normal ein Alltag als Orakel von Delphi nunmal sein konnte.