✧ Der Gewinnertext
Seit mehreren Minuten saß die junge Frau nun schon neben ihrem Adoptivsohn und leistete ihm Gesellschaft. In letzter Zeit tat sie das häufiger. Es musste bereits weit nach Mitternacht seit, doch in keiner Welt würde sie Liam in diesem Zustand alleine lassen. Langsam klang die Panikattacke, die ihn so rabiat aus dem Schlaf gerissen hatte, wieder ab. Doch das Zittern und unterdrückte Schluchzen jedoch blieb.
„Liam, möchtest du mir verraten was passiert ist?“ Der Sechszehnjährige schüttelte nur den Kopf. Noch nie hatte er sich seiner Adoptivmutter anvertraut. Doch obwohl jedes Mal etwas in ihrem Herzen brach, drängte sie ihn nicht weiter. Dazu hätte sie am wenigsten ein Recht. Plötzlich schien er sich aber doch noch umzuentscheiden. „Ich..Du hast gesagt, man kann sein Leben selbst bestimmen. Du hast gesagt, das Schicksal sei nur ein billiges Konstrukt für die, die nicht bereit sind, etwas für ihr Leben zu opfern.“ Als er seine Augen auf sie richtete, verhärtete sich seine Stimme. „Du hast mich angelogen. Gar nichts liegt in den eigenen Händen! Wenn etwas nicht sein soll, dann soll es wohl nicht so sein. Nenn mir nur einen Fall, in dem jemand sowohl das Schicksal betrügen und verändern konnte.“
Leise seufzte sie. „Es ist okay, wenn du gerade dieses Gefühl hast. Und du weißt, dass ich es dir niemals absprechen möchte. Aber deinen Beweis, den gibt es. Und sie begann zu erzählen:
„Es gab einmal eine Frau, ihr Name war Evelyn. Evelyn war voll überzeugter Leidenschaft, sie war entschlossen und sie war töricht. Mehr als das, sie war überheblich und glaubte, die Welt könnte ihr zu Füßen liegen. Doch das sollte sich ändern. Kurz nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war, begann sie, von Visionen heimgesucht zu werden. Ihr Kind verletzt, ihr Kind in Armut, ihr Kind dazu verdammt eines frühen Todes zu sterben. Wer weiß, warum ausgerechnet sie die haben sollte. Schließlich stand der Tag der Geburt an. Ein Blick in die tiefblauen Augen ihres Sohnes und sie war entschlossen, für ihn alles auf eine Karte zu setzen. Es ging nur noch darum, ihr Kind vor seinem eigenen Schicksal zu bewahren. Mithilfe einer ausgedachten Geschichte gelang es ihr, den Kleinen in einem Heim abzugeben. Evelyn wollte es wieder abholen, sie dachte, mehr als ein paar Monate bräuchte sie nicht. Töricht, wie ich bereits sagte.“
Verstohlen warf die junge Frau einen Blick auf Liam. Er schien sich zu beruhigen, seine Augen lagen aufmerksam auf ihr. Blaue Augen. Sie beschloss, die Geschichte etwas zu kürzen, der Junge brauchte keine Bedienungsanleitung für eine solche Tat. Keinesfalls wollte sie ihm die Chance geben, auch nur darüber nachzudenken, die Geschichte sich wiederholen zu lassen.
"Nur die Götter wissen, wie sie Evelyn es schaffte, die Moiren zu finden und warum diese ausgerechnet an diesem Tag nicht aufpassten. Fakt ist, dass Evelyn es fertigbrachte, den Faden ihres Sohnes zu verändern. Das Leid schien abgewandt. Fast war sie schon wieder weg, als sie auf ihren eigenen Schicksalsfaden traf. Auch diesen veränderte sie, baute eine Art Hintertür als Fluchtmöglichkeit in ihr Leben, für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Und oh ja, wie sehr etwas doch schiefging. Natürlich fiel es den Moiren auf, dass ein Mensch an den Leben herumgepfuscht hatte. Wie konnte Evelyn auch so überheblich sein zu glauben, sie könnte es schaffen? Wozu die Liebe einer Mutter nur verleiten kann, wenn es um das Leben ihres eigenen Kindes geht…“
Liam begann zu wispern: „Wer das eigene Kind zurücklässt für so eine Aktion, der liebt es nicht. Sie hätte ihm helfen sollen, statt es zu verlassen.“ Die Worte schienen sich wie ein Schauer über das Herzen der jungen Frau zu legen. Hinterher war man immer schlauer. „Vertrau mir, Evelyn sollte sich ihres Fehlers schon bald bewusst werden.“
Die Moiren waren erzürnt darüber, auf diese Weise verraten worden zu sein. Bald schon setzten Visionen Evelyn ein zweites Mal schwer zu, dieses Mal, wie die Moiren sie verhöhnten. Aus Angst darüber, ihrem Sohn könnte etwas zustoßen, kehrte sie zu ihnen zurück. Sie fiel auf die Knie, darum bettelnd, dass nur ihr Sohn verschont werden sollte, dass sie wenigstens einmal hören könnte, wie er sie ‚Mama‘ nannte. Doch sie fand keine Gnade, sondern nur ihre Bestrafung im Tartarus.
Evelyn musste keine Steine rollen, sie sollte auch nicht von Hunger geplagt werden. Nein, selbst ihre Strafe verhöhnte sie. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Vielleicht kannst du dir vorstellen, was die Strafe war?“
Die Stimme der jungen Frau versagte. Die Geschichte bewegte etwas in ihr, doch sie musste sich konzentrieren. Es war doch nur eine Geschichte, oder?
„Evelyn fand ein Konstrukt aus Fäden vor, größer als jeder menschliche Körper es sein könnte. Die Aufgabe war einfach: Entknote sie. Doch schon bald verstand sie die wahre Folter. Kaum hatte sie ein wenig Ordnung geschaffen, sollte neues Chaos entstehen. Kaum war sie davon überzeugt, sie hatte einen Schicksalsfaden geglättet, sollte sie die Schmerzensschreie einer Person hören, dessen Leben sie zerstört haben könnte. Ob die Laute echt waren, wusste sie nicht. Vielleicht waren sie es tatsächlich und die Moiren lachten sie für ihre Überzeugungen aus. Manchmal konnte sie es sogar hören. Und so webte sie, entknotete sie und versagte am Ende dabei. Evelyn verbrachte Jahre dort unten. Jahre, in denen es ihr verwehrt wurde, ihren Sohn beim Aufwachsen zu sehen. Längst hatte sie ihre Überzeugungen, ihre Entschlossenheit verloren. Doch auch das sollte ein Ende haben. In ihrer Wut hatten die Moiren nämlich übersehen, dass Evelyn auch ihren Faden verändert hatte. Die Hintertür, für den schlimmsten Fall. Und als sie wieder einmal den Blick nah oben richtete, da erschien sie ihr. Ein Licht, ein Ausgang, ein letzter Weg, die Stimme ihres Sohnes zu hören. Einmal zu hören, wie er sie ‚Mama‘ nannte. Ein Ort wie der Tartarus und dann gab es ein einfaches Loch in der Decke? Evelyn konnte es kaum fassen. Wachen an jedem Ausgang und keinem fiel auf, dass die Decke kaputt war. Sofort sprangen ihr die blauen Augen ihres Sohnes ins Gesächtnis und die Überzeugung war zurück. Jetzt war sie dran, die Moiren zu verhöhnen. Ja, man konnte das Schicksal in die eigenen Hände nehmen! Denn das Fädengerüst hatte schließlich eine Besonderheit: Es war größer als ein menschlicher Körper es je sein konnte, und das war wichtig! Die Strafe, die sie erniedrigen sollte, erwies sich als Hilfe in die Freiheit. Wie hieß es doch: Wer zuletzt lacht, lacht am Besten.
Evelyn fürchtete sich natürlich, der Plan war alles andere als sicher. Sollte sie dabei erwischt werden, wie sie nicht nur die Moiren, sondern auch den Tartarus hinterging, dann bliebe es sicherlich nicht bei den Fäden. Doch wieder war sie töricht, angetrieben von dem letzten Wunsch nach der Stimme ihres Sohnes. Wieder setzte sie für ihn alles auf eine Karte. Ihr ganzer Körper zitterte unter der Anspannung und mehr als einmal sah sie sich fallen. Als es ihr unmöglich erschien, dachte sie an ihn, als sie aufgaben wollte, waren ihre Gedanken bei diesen wunderschönen Augen, als sie vermutete entdeckt zu werden, waren sie noch immer da. Am Ende des Tages sollte sie oben stehen. Sie war frei. Evelyn hatte es geschafft und stand unter der hellen Sonne, deren Licht sie von unten gesehen hatte."
Belustigt unterbrach Liam sie, die tiefblauen Augen längst nicht mehr getrübt: „Na also, Lynn, da ist ja tatsächlich dein ‚Beweis‘, sogar mit süßem Happy End. Perfekte Welt, was?“ Lynn, der Vorname der jungen Frau. Und wieder schien sich ein weiteres Stück ihres Herzens zu lösen und auf dem Zimmerboden zu zersplittern. „Nicht ganz, Liam, nicht ganz.“
„Tatsächlich fand Evelyn auch ihren Sohn wieder, der mittlerweile alles andere als das Baby war. Über die Jahre, die sie im Tartarus gewesen war, war er zu einem Teenager herangewachsen. Lediglich die Augen waren so wie vorher: Tiefblau. Doch so sehr sie sich freute, ihn wiedersehen zu können, getrübt war sie trotzdem. Du musst verstehen, Evelyn hatte die Abgründe gesehen, sie hatte gesehen, was es bedeutete, erwischt zu werden. Die Moiren hatten zwar ihr Kind verschont, doch was würde passieren, wenn erkannt wurde, dass die Frau verschwunden war? So lange hatte Evelyn ihren Sohn verlassen, er war gezeichnet von dem alles andere als leichten Leben im Heim. Du weißt ja, was es bedeutet, Liam. Niemand wird von seinen Eltern verlassen und ist danach der Selbe. So etwas hinterlässt Spuren, selbst wenn sich das Kind selber nicht mehr erinnern kann, wie die eigene Mutter einmal ausgesehen hat. Evelyn war gezwungen, sich auch hier von der Liebe einer Mutter leiten zu lassen. Sie veränderte ihren Namen leicht, sodass sie nicht alles von sich aufgab, aber ihren Sohn schützen konnte. In dem Heim meldete sie sich nicht als Mutter, sondern als eine Person, die ein Kind adoptieren wollte. Nun war sie also mit ihrem Sohn vereint, doch als Adoptivfamilie. Sie hatte, was sie wollte, aber dann doch irgendwie nicht. Es tat ihr weh, ihrem eigenen Sohn nicht die volle Wahrheit erzählen zu können. Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, jemanden jeden Tag zu sehen und doch so getrennt zu sein? Aber es war zu seinem Schutz. Selbst das letzte Stückchen Tragik trifft ein: Evelyn nahm all das in Kauf, doch ihr letzter Wunsch sollte trotzdem nie erfüllt werden.“
Langsam nickte Liam, er schien zu begreifen. „Viele Heimkinder, die schon älter sind, sprechen ihre Adoptivfamilie nicht mit den üblichen Kosenamen an. Das tue ich ja auch nicht, es fühlt sich..falsch an.“ Lynn schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. „Lynn“, so hatte Liam sie seit der Adoption schon immer genannt. Etwas anderes würde sie auch nie verlangen. Doch trotzdem verspürte sie immer wieder ein Gefühl, als würde ihr Herz immer weiter zugeschnürt werden. Ein Schmerz, der wohl weitesgehend unverständlich war.
Was für eine Ironie das doch war: Evelyn hatte sich Freiheit und ein erfülltes Leben mit ihrem Sohn gewünscht und nun wog ihre Last noch schwerer als zuvor. Sie hatte bewiesen, dass man das Schicksal verändern konnte, aber niemals, dass es besser werden wird. Und alles nur, weil die junge Frau ein wenig töricht gewesen war.
Liam hatte sich bereits wieder hingelegt und „Lynn“ eine gute Nacht gewünscht, doch die junge Frau blieb noch etwas sitzen. Sie hatte es geschafft, ihm ein Vorbild zu geben, als er eines gebraucht hatte. Selbst wenn es für ihn nur die süße Legende war.
Einzelne Tränen rollten über ihre Wangen. Hoffentlich hatte sie Liam, mit den tiefblauen Augen, jetzt nicht auf eine so unrealistische Idee gebracht. Sein Schutz war ihr so wichtig, sie würde für ihn durch die Hölle und zurück gehen. Oder eben durch den Tartarus. Doch das konnte er niemals wissen. Es war zu gefährlich. Niemand überlistete die Moiren und kam einfach so davon. Niemand überlistete den Tartarus und kam einfach so davon. Wenn „Lynn“ am Ende war, dann würde Evelyn wieder auferstehen, nur um zurückzukehren. Vielleicht lagen ihre eigenen Fäden schon lange nicht mehr im Tartarus, sondern waren hier, um sie zu quälen. Vielleicht waren sie es, die ihr Herz abschnürten.
Sie hatte ihren Sohn mit den tiefblauen Augen gesehen, sie hatte ihn beschützt. Aber der letzte Wunsch, der war nie erfüllt worden. Eines Tages könnte er die Geschichte vielleicht verstehen, sie verstehen und die junge Frau hoffte inständig, dass er so etwas niemals erleben musste. Lieber ließ sie ihn in Unwissentheit als ihn einer möglichen Bestrafung auszusetzen. Bei Göttern und Moiren wusste man schließlich nie.
Doch wenn sie Liam sicher wusste, würde sie ihre Bestrafung leichter annehmen können. Hoffentlich. Fahrig wischte sie ihre Tränen von der Wange. Dummes Herz, das nach der ganzen Tortur noch immer töricht war.
Sie war bereits an der Tür, das Licht ausgeschaltet, als sie bemerkte, wie Liam sich regte. Er schien etwas sagen zu wollen, nicht ganz wach aber auch nicht ganz im Schlaf. Vielleicht war das auch nur der rauschende Wind gewesen oder sie bildete es sich auch nur ein. Hinzu kam, es fast komplett dunkel in dem Zimmer, wie sollte sie da eine Farbe erkennen?
Doch das tiefblaue Augenpaar musterte sie intensiv, bevor zwei Worte zu ihr vordrangen. Worte, die alles verändern sollen.
„Danke, Mama.“